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Patanjali legt in seinen Sutren den Schwerpunkt ganz klar auf die Funktionsweise des Geistes, sodass rein theoretisch jeder, der sich damit entsprechend auseinandersetzt, die absoluten Meriten des Yoga erfahren kann. Nämlich „einen Zustand von vollkommener Freiheit zu erreichen und darin zu verweilen“ (YS 4.26).  Wer will das nicht - die vollkommene Freiheit!!! Aber wie kommt man da hin?

Im Zusammenhang mit Yoga wird oft die Frage gestellt, ob es sich dabei um eine Religion handelt und ob man nun gläubig sein müsse, um ein echter Yogi zu sein. Ein verwirrendes Thema, dem nicht so leicht auf die Spur zu kommen ist. Durchforsten wir also mal die Yoga-Sutren zu diesem Thema:

Hingabe an eine Göttlichkeit als Weg in die innere Freiheit?

In den Yoga Sutren behandelt Patanjali die Frage der Religion offen und bindet sich an keine bestimmte Glaubensrichtung – wobei es fraglich ist, ob zu dem Zeitpunkt der Niederschrift (plus/minus 200 v.Chr./200 n.Chr.) nicht automatisch der Hinduismus als einzige und daher maßgebliche Religion empfunden wurde. Dennoch nimmt auch Patanjali immer wieder auf die Existenz eines nicht näher definierten Gottes oder einer Göttlichkeit Bezug und beschreibt, dass die Hingabe an eine Göttlichkeit besonders hilfreich, wenn nicht gar notwendig ist, um den Zustand von Yoga - also die vollkommene Freiheit - zu erreichen.

Mit isvarapranidhanadva (YS 1.23) – übersetzt mit „der Hingabe an Gott“ – verspricht Patanjali den direkten und sicheren Weg zur inneren Freiheit, sozusagen der „Aufzug“ zur Glückseligkeit. An dieser Stelle erläutert Desikachar in seinem Buch "Über Freiheit und Meditation" allerdings, dass Patanjali die Hingabe an Gott als nur eine Möglichkeit unter anderen sieht, um zu Klarheit und innerer Gelassenheit zu finden. In den darauf folgenden Sutren 1.24 – 1.29 erkennt Patanjali Gott allerdings als das höchste Wesen, als den Ursprung allen Wissens und als ersten und ewigen Lehrer an. Weiterhin betont er in den Sutren 1.27 – 1.29, wie wichtig eine regelmäßige Anrufung Gottes ist. Wie diese Anrufung aussehen soll, lässt er offen, aber sie sollte in einer Form geschehen, in der sich Gottes Qualitäten für einen am besten wieder spiegeln, um sich diese immer wieder zu vergegenwärtigen. Dank dieser Praxis kann ein Mensch alle Hindernisse aus dem Weg räumen und seine wahre Natur erkennen.

Zudem fordert Patanjali mit tapahsvadhyayesvarapranidhananani kriyayogah (YS 2.1) drei Qualitäten ein, die die Yogapraxis in sich vereinen muss. Hier gibt es also kein Entrinnen, diese drei Qualitäten müssen erfüllt werden, sonst ist der Weg zur inneren Freiheit versperrt. Interessanterweise übersetzt Desikachar hier an dieser Stelle esvarapranidhanani nicht mit "Hingabe an Gott", (obwohl das Sanscrit-Wort  isvarapranidhanadva aus YS 1.23 doch sehr ähnelt), sondern mit „der Akzeptanz unserer Grenzen“.

Auch in den Niyamas (YS 2.32) wird esvarapranidhanani wieder benannt, diesmal übersetzt als „Ehrfurcht gegenüber einer höheren Kraft oder das Annehmen unserer eigenen Begrenztheit im Vergleich zu der Allwissenheit Gottes“.

Ganz klar erkennt Pantanjali also die Existenz eines Gottes oder einer Göttlichkeit an – wie auch immer die geartet sein mag. Und er geht weiter: Gemäß der Übersetzung von Desikachar fordert er Hingabe an und Ehrfurcht vor dieser Göttlichkeit, die er – im Gegensatz zum Menschen – als Allwissend bezeichnet.

Ohne Göttlichkeit keine Freiheit?

All diese Ausführungen verleiten zu dem Gedanken, dass es ohne einen eigenen Glauben und die Hingabe an eine Göttlichkeit doch nicht hinhaut, den Zustand von Yoga zu erreichen. Wie kann man sich die Qualitäten einer Göttlichkeit vergegenwärtigen, wie Ehrfurcht haben oder sich hingeben, wenn kein Glaube an einen Gott oder eine Göttlichkeit vorhanden ist? Auch wenn in verschiedenen Büchern immer wieder frei gestellt wird, das Wort „Göttlichkeit“ sozusagen als Hülse zu betrachten, die jeder selbst mit einer eigenen Vorstellung von Göttlichkeit füllen kann, was auch immer das für den einzelnen bedeutet.

Viele tun sich aber schwer damit, einen „Platzhalter“ zu finden. Liebe bleibt für Liebe, Licht bleibt Licht, Natur bleibt Natur, Evolution bleibt Evolution – und eben keine Göttlichkeit. Erfordert nicht der Glaube an eine Göttlichkeit oder an eine höhere Instanz auch den Glauben daran, dass es einen wie auch immer gearteten Plan gibt, den jemand oder etwas ausführt? Womöglich noch mit Sinn und Zweck? Dass diese höhere Instanz über Mächte und Kräfte verfügt, die in welcher Form auch immer gezielt eingesetzt werden?

Natürlich nimmt das Leben manchmal seltsame  Wendungen und "trifft" Entscheidungen, die außerhalb unserer Macht stehen. Aber bedeutet das, dass es eine wahre Bedeutung dahinter oder gar eine Göttlichkeit dahinter gibt? Das wäre manchmal sicher wünschesnwert, bietet es doch eine wunderbare Erklärung für die Dinge, die ansonsten unerklärlich bleiben.

Kein Fazit!

Es bleiben eine Handvoll unbeantworteter Fragen: Wenn Yoga keine Religion ist, warum sollte die Anerkennung einer Göttlichkeit Voraussetzung sein, um den Zustand von Yoga zu erreichen? Ist jeder, der nicht an ein göttliches Konzept glaubt, ausgeschlossen von den wahren Wonnen des Yoga? Oder sind solche Fragen nur Ausdruck eines der neun Hindernisse, dem übermäßigen Zweifel, der Unklarheit im Geist hervorruft? Oder ist es das Unvermögen, einen weiteren Schritt zu gehen? Oder hat Avidya mal wieder seine Hände im Spiel?Ist ein nicht glaubender Yogi ein schlechter Yogi? Oder überhaupt ein Yogi? Bleibt dem Nicht-Gläubigen die Freiheit der Seele verschlossen? Wollen wir das mal nicht hoffen. Wäre nicht sehr yogisch!

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